Abenteuer Russland (Teil 1)
Вологда-Онега-Ладога 2008
Vologda-Onega-Ladoga 2008
So weit die Füsse radeln...
Teil 1
Wo liegt Karelien?
Ich brauche ein Lexikon und einen Atlas, um festzustellen, dass Karelien eine Republik ist und an der östlichen Grenze von Finnland liegt. Es reizt mich, mit der Extremtour einen Teil Europas kennenzulernen, der bei uns im Westen fast unbeachtet und nicht bekannt ist.
Manfred in St. Petersburg an der Auferstehungskirche |
Vorbereitungen
Zu den weiteren nichtsportlichen Vorbereitungen gehört die Aufbereitung und Implementierung digitaler, russischer Strassenkarten in mein GPS, die Beschaffung eines Einreisevisums für die russische Föderation, sowie Flug- und Hotelbuchungen
Aufgrund meiner Erfahrungen mit Vibration und Erschütterung bedingten Nackenproblemen bei „Paris-Brest-Paris“ baue ich eine gefederte Vordergabel in meinen Carbon-Renner ein
Zur sportlichen Vorbereitung absolviere ich im Frühjahr 2008, wie im Jahr davor, die Super-Brevetserie 200km, 300km, 400km und 600km.
Sankt-Petersburg
St. Petersburg, Dvorkovaya-Platz |
Am 30. Juni 2008 beginnt das Abenteuer. Ich fliege von Berlin nach
Sankt Petersburg. Meinen Renner transportiere ich im Radkoffer. In Sankt
Petersburg wohne ich mit den bayerischen Randonneuren Karl W., Karl M.,
Tom und Frank, dem Holländer Ivo und dem Belgier Antoon im gleichen Hotel.
Gemeinsam erkunden wir die Stadt mit Isaak-Kathedrale, der Festung „Peter und
Paul“, der Admiralität und dem Panzerkreuzer Aurora, der 1917 mit einem
Kanonenschuss die Oktoberrevolution auslöste.
Zur Fortbewegung in Sankt Petersburg benutzen wir ausnahmsweise
keine Fahrräder. Wir nehmen die Metro. Die Petersburger Metro ist die tiefste
U-Bahn der Welt. Der Höhenmesser meines GPS zeigt an, dass uns die endlos wirkende Rolltreppe
zur Metro in eine Tiefe von 72m unterhalb des Meeresspiegels befördert.
Karl W. wird leider Opfer eines dummen Unfalls. Er zieht
sich eine tiefe Schnittwunde der Wade zu und muss in ein Krankenhaus
eingeliefert werden. Für Karl W. ist es das Aus vom Traum Kareliens.
Sankt Petersburg beeindruckt mich. Wenn ich am Ufer der Neva stehe,
mit Blick auf die Zugbrücken und die Silhouette der Stadt, kann ich fast
glauben, ich stehe in London an der Themse. Die Hauptstraße Newski-Prospekt
dagegen erinnert mit Weitläufigkeit, historischen Gebäuden und Denkmälern an
die Champs-Élysées in Paris. Ich erlebe Petersburg als eine westliche Weltstadt
mit westlichem Niveau. Westlich sind auch Waren, Mode und Autos. MacDonalds ist
genauso vertreten wie Modegeschäfte vom Ostwestfalen Gerry Weber. Die große
Anzahl westlicher Nobelkarossen überrascht mich. Insbesondere scheinen die
Russen eine Vorliebe für deutsche Luxus-Geländewagen zu haben. Nie zuvor habe
ich so viele Porsche Cayenne und Audi Q7 auf einmal gesehen.
Kreml Vologda |
Nachtzug nach Vologda
Startort des Radmarathons ist die russische Stadt Vologda.
Vologda liegt etwa 600km östlich von Sankt Petersburg.
Am Abend des 2. Juli nehmen wir den Nachtzug nach Vologda.
Ivo der Holländer, Antoon der Belgier, der dänische Liegeradfahrer Jan und ich
wollen soviel Russland wie möglich erleben. Wir haben deshalb die Schlafplätze
in der „Holzklasse“ des Zuges gebucht. Beim Einsteigen zeigt sich ein Problem.
Gänge und Schlafabteile des Zuges sind so eng, dass wir nirgendwo unsere
Fahrräder abstellen können. Das Schlafabteil besteht aus vier Liegen, jeweils
zwei übereinander angeordnete Liegen an jeder Seite. Über den Liegen ist
jeweils ein Gepäckfach. Die Gepäckfächer sind wesentlich zu klein für die
Fahrräder. Ivo hat die Idee: Wir demontieren die Vorderräder der Fahrräder und
heben die Fahrräder an die Decke des Abteils. Wir legen die Räder jeweils vom
Gepäckfach einer Seite zum Gepäckfach der gegenüberliegenden Seite. Ivo sollte
eine Verfahresanweisung für den Transport von Fahrrädern in russischen
Schlafabteilen schreiben!
Auf dem Kreml in Vologda |
Vologda
Am Abend des 3. Juli versammeln sich alle Teilnehmer des Radmarathons im Foyer des Stadthotels. Der Präsident des Radsportklubs BalticStar, Mikhail Kamentsev, erläutert die Strecke. Die Route führt von Vologda zunächst nordwärts in die Republik Karelien, um den Onega-See herum, bis zur karelischen Hauptstadt Petrosavozk, dann Richtung Südwest zum Ladogasee. Am Ufer des Ladoga geht es nordwärts zum Ziel, Badeort und Hafenstadt Sortavala. Für die gut 1.200km lange Strecke steht ein Zeitlimit von 90 Stunden zur Verfügung. Zielschluss soll am 8.7.08 um 1:20Uhr sein. Auf der Strecke sind 14 Kontrollstellen anzufahren. Das „Roadbook“ für die Kontrollstempel, Rahmenschild mit Startnummer für’s Fahrrad und die Wegbeschreibung mit Beschreibung der Kontrollstellen werden übergeben. Die Versammlung gibt Gelegenheit, die anderen Teilnehmer des Radmarathons kennen zu lernen.
Zu den
48 Teilnehmern gehören:
30
Russen
2
Ukrainer
3
Österreicher
1
Belgier
1
Niederländer
1
Israeli
8
Deutsche
Aufstellung zum Starterfoto |
En route |
En route
Die Sonne scheint und mit leichtem Gegenwind rollen wir nordwärts. Die ersten 50 Kilometer bleibt das Feld bei moderater Geschwindigkeit ziemlich geschlossen. Erst allmählich erhöht sich das Tempo an der Spitze des Feldes und immer mehr Fahrer lassen sich zurückfallen. Ich fühle mich gut und mache die Tempoerhöhung mit. Ich schliesse mich den beiden Österreichern Ferdinand und Gerold an, die mächtig Dampf machen.Nach 128 km erreichen wir mit etwa 4 Stunden Fahrtzeit die erste Kontrollstelle Kirillov. Die Kontrollstelle befindet sich an den massigen Mauern und stilvollen Türmen des aus dem 16. Jahrhundert stammendem Kirill-Beloserski-Klosters. Schade dass der Radmarathon keine Zeit für eine Besichtigung lässt. Schnell Eintrag ins Roadbook, Wasserflaschen füllen und weiter. Das Wetter ist prima, ich fühle mich blendend und es macht Spaß, mit den Österreichern Tempo zu bolzen. Die Straßen sind hier in recht ordentlichem Zustand. Die wenigen Schlaglöcher lassen sich gut umfahren. Wir radeln durch ländliche, bewaldete Landschaft, es herrscht wenig Verkehr. Die zweite Kontrollstelle Lipin Bor befindet sich nach 201 km an einer Tankstelle. Die Tankstelle wird nach 6 Stunden und 54 Minuten erreicht. Bis hierhin haben wir trotz kräftigem Gegenwind einen Schnitt von fast 30 km/h erreicht. Ich bin mit mir mehr als zufrieden. Ich esse drei Wurstbrote und fülle meine Flaschen. Die Österreicher haben ein Begleitfahrzeug und werden von diesem versorgt. Um 14:40 Uhr verlasse ich die Kontrollstelle und setze die Fahrt gut gelaunt fort. Da die Schlaglochdichte größer wird und ich in der Gruppe Windschatten fahrend die Löchern immer wieder zu spät sehe, beschliesse ich, die Österreicher fahren zu lassen. Allein radelnd kann ich den Löchern besser ausweichen.
Leistungstief?
Avi in Kirillov |
Ich werde immer langsamer. Ich habe dass Gefühl, dass mich jemand hinten festhält. Mein Renner läuft zunehmend schwergängiger. Zuerst glaube ich an ein Leistungstief, aber ich fühle mich noch gut. Dann bin ich überzeugt, dass die Bremsen schleifen müssen. Ich nehme die Musikhörer aus den Ohren. Tatsächlich höre ich Schleif ähnliche Geräusche. Ich halte an, um der Sache auf den Grund zu gehen. Kaum steht mein Rad, sacken die Laufräder in den Teer der Straße ein! Mein Fuß, mit dem ich mich abstützte sackt ebenfalls in die frisch ausgebesserte Strassendecke ein. Vorsichtig stake ich mein Fahrrad schiebend und ziehend von der Straße.
Was ist passiert? Die pralle Sonne hat den frischen Teer aufgeweicht. Die Reifen meines Rades haben den Teer aufgenommen. Der Teer hat die Reifen mit den Durchlaufstellen des Rahmens und den Bremzzangen völlig verklebt.
Aufgeweichter Teer |
Schlimmer als Hundekacke
Ich muss die Räder ausbauen und den Teer von den Reifen kratzen. Mit meinem Schweizer Messer schabe ich den Teer aus den Durchlaufstellen des Rahmens und aus den Bremszangen. Damit ich mit meinen Schuhen wieder in die Klickpedalen rasten kann, muss ich auch diese vom gröbsten Teer befreien. Das Zeug ist um Potenzen schlimmer als Hundekacke. Mein Schweizer Messer verklebt, dass es sich nicht mehr zuklappen lässt. Ich hoffe, meine mit Teer verschmutzten Hände kleben nicht am Lenker fest.Ich gehe etwa 5 Kilometer neben der Straße zu Fuß, bis ich meine, dass die frischen Teerflicken so weit auseinander sind, dass ich zwischen diesen durchfahren kann. Ich täusche mich. Zweimal musse ich die Prozedur mit dem Freischaben der Reifendurchlaufstellen wiederholen.
Die meisten anderen Fahrer haben mit dem aufgeweichten Teer wenig Probleme und überholen mich, während ich neben der Straße zu Fuß gehe oder schwarze Hundekacke kratze. Die Fahrer von Mountainbikes mit breiten Strassenreifen haben offensichtlich überhaupt kein Problem. Ursache meiner Schwierigkeiten sehe ich in dem engen Rahmen meines Renners. Eigentlich wollte ich für Russlands Straßen 28er Reifenbreite fahren. Die 28er Reifen liefen jedoch nicht durch den Rahmen. Ich wählte 25er, die so gerade eben durchlaufen. An den engsten Stellen sind etwa 3mm Luft zwischen Reifen und Rahmen. Diese 3mm sind leider schnell bremswirkend durch den schwarzen, klebrigen Teer gefüllt. Durch den Klebe-Teer habe ich 2 ½ Stunden Zeit verloren. Wegen der hohen Geschwindigkeit auf den ersten 200 km liege ich trotzdem nicht allzuviel hinter meinem Zeitplan.
Grillhütte Aleksandrovskuyu |
Pasta-Mahlzeit in Grillhütte
Meine Flaschen fülle ich mit verdünnten Fruchtsäften wieder auf. Gestärkt und gut gelaunt verlasse ich gegen 20:00 Uhr die Kontrollstelle.
Ich fahr allein, der Gegenwind hat etwas nachgelassen und mein Renner läuft wieder, als wäre ein Motor eingebaut. Ich erreiche die unscheinbare Grenze Kareliens. Nur ein großes Schild an der Straße teilt mit, dass ich Russland verlasse und mich nun in der Republik Karelien befinde.
Ich pedaliere durch schier endlose Fichtenwälder. Nach 398 km erreiche ich gegen 22:30 Uhr die Kontrollstelle 4 „Saminskij pogost“. Für die 92 km seit der Kontrollstelle 3 hatte ich nur 2 ½ Stunden gebraucht. Mein Renner hat die Strecke zwischen den Kontrollstellen mit 36 km/h zurückgelegt. Auf einer Wiese neben der hölzernen Dorfkirche sind ein paar Schlafzelte aufgebaut. Noch fühle ich mich zu wach zum Schlafen. Nach etwas Getreidebrei und Kaffee schwinge ich mich wieder auf meinen Renner.
Nordrussische Landschaft um Mitternacht |
Farbenspiel
Ich genieße das Radeln durch die wechselnden Farben des langen Sonnenuntergangs. Das Glühen des Himmels wechselt von gelb über orange nach purpurrot. Dann werden Wälder und Seen in ein phantastisches lila Licht getaucht. Mein MP3-Player ist ausgeschaltet und ich höre nur das leichte Säuseln des Windes in den Bäumen und das gleichförmige Surren meiner Reifen auf dem rauhen Asphalt. Peng! Es knallt in der Stille und mein Hinterreifen ist platt. Das leuchtende Farbenspiel hat mich so fasziniert, dass ich ein fast badewannentiefes Schlagloch übersehen habe. Der Reifen ist bis auf die Felge durchgeschlagen und hat den Schlauch durchstoßen. Kaum bin ich vom Rad abgestiegen, umschwärmen mich unzählige Mücken. Ich schlage wie wild um mich und kann trotzdem nicht verhindern, dass ich fortwährend gestochen werde. Um mich schlagend, baue ich das Hinterrad aus. Obwohl es Mitternacht ist, spendet der lila glühende Horizont genug Licht zum Schlauchwechsel. Die Taschenlampe kann im Rucksack bleiben. Ich versuche die Reparaturarbeiten möglichst einhändig auszuführen. Die andere Hand brauche ich zum Mückenschlagen. Für das Luftpumpen benötige ich beide Hände, welches die Mücken sarkastisch ausnutzen. Nach meiner Zwangspause steige ich völlig zerstochen wieder auf meinen Renner. Meine juckende Haut kratzend radele ich freihändig langsam weiter. Der Sonnenuntergang wechselt ohne Übergang in den Sonnenaufgang. Bei kühlem Morgenlicht erreiche ich gegen 4:30 Uhr frierend und zerstochen die Kontrolle 5 in der Dorfschule von Pudozh. In der Schule ist es gemütlich warm. Zu gemütlich. Ich werde müde und kann mich während der warm servierten Mahlzeit kaum wach halten. Im Klassenraum der dritten Klasse finde ich eine freie Matraze. Ich schaffe knapp meine Schuhe auszuziehen, bevor ich fest einschlafe. Nach vier Stunden wache ich auf. Eine Tasse Kaffee, meine Wasserflaschen gefüllt und dankend verabschiedend steige ich steif auf mein Carbonross.
Typische Schlaglochpiste |
Schlaglochpisten
Manfred & Jan in Pestnachoe |
Einige Kilometer vor der Kontrolle 7 endet die befestigte Straßendecke. Schritttempo fahrend versuche ich mit der dünnen Rennradbereifung auf der Schotter- und Sandpiste in der Spur zu bleiben. Um 15:00 Uhr erreiche ich die Dorfschule in Chyolmuzhi. Eintrag ins Roadbook, Wasserflaschen gefüllt, ein kleiner Imbiss und um 15:20 Uhr bin ich wieder auf der Schotter- und Sandpiste. Nach Erreichen befestigter Straße kann ich wieder Tempo aufnehmen.
Holzkirche Povenec |
Belomor-Baltik-Kanal
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Kontrollstelle am Onega-See |
Lagerfeuer am Onega-See
Lagerfeuer am Onega-See |
„Eiserne Straßensperre“
Schlafen in der Turnhalle Girvas |
Um 4:30 Uhr erreiche ich nach nun 784 km durchgefroren die Kontrollstelle 9 in der Dorfschule von Girvas. Einen Teller warme Nudeln und mit Behagen schlüpfe ich in der Turnhalle unter eine wärmende Decke. Ich schlafe sofort ein. Die Weckfunktion meines GPS hatte ich auf 9:00 Uhr gestellt. Bevor der Wecker aktiv wird, wache ich von selbst auf. Nach einem ausgiebigen Frühstück verlasse ich gestärkt die gastliche Schule. Die Sonne strahlt. Es wird wieder eine schöner Tag werden. Von Kindern bewinkt radele ich aus dem Dorf. Ich bin gut in meinem Zeitplan und gut gelaunt.